Entspannung mittels Yoga Nidra - Einleitung
Wir haben die grossen Seuchen der Vergangenheit überwunden. Auch sind wir nicht mehr den gleichen Gefahren ausgesetzt wie früher, als unsere biologischen Stressreaktionen ("fight, flight, freeze") uns vor Raubtieren schützen mussten.
Heute haben wir es mit ganz anderen stressbedingten Störungen zu tun.
Unser Alltag ist überlagert mit Stressoren, welchen wir dauerhaft ausgesetzt sind. Doch unser biologisches Stressreaktions-System funktioniert immer noch genau gleich wie im Steinzeitalter, nur mit dem markanten Unterschied, dass die Stresssituation dazumal kurzzeitig anhielt und nicht wie heute über Tage, Wochen und Monate hinweg andauert.
Wenn man die häufigsten Krankheiten der hoch zivilisierten Ländern ganzheitlich betrachtet, dann ist allen etwas gemein:
die "Ur-Sache" liegt bei der andauernde Anspannung.
Jegliches Tun oder Lassen häuft in uns Spannungen an, welche sich in den verschiedenen Schichten der menschlichen Persönlichkeit, in den Muskeln, den Gefühlen und Gedanken ansammeln.
Ob der Mensch zu viel oder zu wenig schläft, ob er sich eiweissreich oder vegan ernährt, ob er zu viel denkt, Sport macht oder täglich 30min meditiert... Er häuft in jedem Fall Spannungen an.
Auch stehen die einzelnen Schichten des Menschen (die körperliche, mentale, emotionale und seelische Ebene) in engem Zusammenhang zueinander. Ist der Mensch emotional angespannt, verkrampft sich auf der physischen Ebene zum Beispiel auch der Magen...
Dazu kommt, dass die inneren Spannungen des Einzelnen sich im kollektiven Feld wiederspiegeln, was der Ausgangspunkt für unser allgemeines weltliches Geschehen ist. Alle yogischen Schriften besagen nicht ohne Grund, dass Friede nur im Inneren und nicht im Aussen zu finden ist.
Deshalb ist das grosse Ziel von Yoga Nidra, die Verspannungen in uns aufzulösen.
Was ist Yoga Nidra
Um diese Frage beantworten zu können, muss zuerst annähernd klar sein, was Yoga ist (lese hier mehr dazu).
Kurz zusammengefasst: Für mich ist Yoga die Verbindung des Bewusstseins im Herzen. Und dies zu fühlen sagt mehr als tausend Worte. Aus dieser tiefsten Verbindung heraus entsteht alles, was mit Yoga zu tun hat.
Nidra bedeutet „Schlaf“. Demzufolge wird Yoga Nidra gerne als "bewusster Schlaf " übersetzt. Der Körper schläft, während das Bewusstsein erhalten bleibt.
Die ca. halbstündige, im Liegen praktizierte Tiefenentspannungs- und Meditationstechnik wurde vom indischen Yogameister Swami Satyananda Saraswati (1923 - 2009) aus verschiedenen jahrhundertealten Techniken aus dem Nyasa und der tantrischen Yogatradition mit Liebe zusammengetragen. Er hat die einzelnen Techniken zur Entspannung von Körper, Geist und Seele in die wundervolle, strukturierte Form des Yoga Nidra gebracht.
Wenn Du abends ins Bett gehst und langsam einschläfst, befindest Du Dich zwischen Wachsein und Schlaf - einem Übergang, der als hypnagogischer Zustand bezeichnet wird. Es ist eine kurze aber sehr kreative Phase, wo die Entspannung und der Schlaf einsetzen und der erlebte Tag mit all seinen Anhaftungen und Auswirkungen an Bedeutung verliert. Der Eingang in eine andere Welt - ein Moment mit Eingebungen, Visionen und Erkenntnissen über sich selbst.
Diesen Schwellenzustand zwischen Schlaf und Wachsein zu erreichen und während der ganzen Übung mühelos darin zu verweilen, ist das Zielstadium von Yoga Nidra, denn darin entfaltet es seine ganze Wirkung.
Yoga Nidra ist eine Methode, die die verschiedenen Ebenen des Wesens (körperliche, mentale, emotionale, energetische, spirituelle, seelische... Ebenen) berührt und erweckt. Beginnend mit der physischen Entspannung des Körpers, über die Atmung (der Verbindung der äusseren und inneren Welt), tiefer zur emotionalen und psychischen Ebene über immer tiefer werdende Erfahrungen des Seins bis hin zur Entdeckung und Identifikation mit dem Selbst. Am Schluss dort angekommen, wo es keine Erklärungen mehr gibt und auch nicht mehr nötig sind. Es gibt nur noch die ruhende Aufmerksamkeit, das in sich selbst ruhende Bewusstsein... SEIN.
Im Yoga Nidra bewegen wir nicht unseren Körper (der hat Pause!) sondern wir bewegen unser Bewusstsein.
Das Bewegen des Bewusstseins lässt im Körper Energie fliessen, denn die Energie folgt dem Bewusstsein. Wo Energie (wieder) fliesst, werden Blockaden gelöst. Durch das systematische Lösen von Blockaden in den unterschiedlichen Teilen des Yoga Nidra kann eine ganzheitliche Regeneration stattfinden und sich neues Energiepotential entwickeln oder freisetzen. Auch ermöglicht das Lösen der Blockaden und Spannungen die Verbindung mit dem eigenen Wesenskern.
Diese Verbindung spielt eine zentrale Rolle bei sämtlichen persönlichen Entwicklungs-, Veränderungs- und Heilungsprozessen.
Durch das Eintauchen in die tiefen Schichten der eigenen inneren Welt, eröffnet sich im Yoga Nidra automatisch ein Zugang zum Unter- und Überbewusstsein, wo es dem Praktizierenden möglich ist, sich mit den verschiedenen Bewusstseinsebenen ganz natürlich und ohne externe hypnotische Manipulation auseinanderzusetzen:
Das Unterbewusstsein speichert sämtliche jemals erlebten oder wahrgenommenen Ereignisse, Handlungen und Erfahrungen, sowie unbewusst erlernte Fähigkeiten ab. Sie prägen sich in Form feinstofflicher Eindrücke oder zurückbleibender Kraftmöglichkeiten in das Unbewusstsein ein. Diese Eindrücke steigen während dem Yoga Nidra ins Bewusstsein auf und bilden so Wurzeln aus denen wieder neue Erfahrungen hervorgehen. Im Unterbewusstsein wird auch der Same des Sankalpas, dem eigens formulierten "Herzenswunsch" gesäht. Lese hier mehr darüber.
Im Überbewusstsein, in Verbindung mit dem höheren Selbst wächst der Mensch über das Ego, das "kleine Ich" hinaus und erfährt Einheitsgefühl und Transzendenz. Es weist auf höheres Wissen oder Intuition hin, Informationen, die wir wissen, ohne sie je gelernt, gehört oder gelesen zu haben.
Im Yoga Nidra gibt es Raum und Zeit sich mit dieser Intuition und dem höheren Wissen zu verbinden.
Es ist nicht vorherzusagen, was sich oder ob sich etwas durch Yoga Nidra im Leben des Praktizierenden verändern, heilen oder entwickeln wird. Ein erwartungsvolles Anstreben eines beabsichtigten Ziels wäre eher kontraproduktiv, da dies viel Spannung anhäuft, die erst wieder gelöst werden müsste. In einer werte- und erwartungsfreien Haltung hingegen, ist Yoga Nidra ein Instrument, das aus sich selbst heraus energetisiert, regeneriert, erschafft, und heilt und dessen Wirkungen am ehesten in dieser Reihenfolge zu bemerken sind.
Yoga Nidra ist eine individuelle und persönliche Reise nach innen, wobei jede einzelne Praktik ein einmaliges Erlebnis ist.
Was schenkt Dir Yoga Nidra
Regeneration
Yoga Nidra wirkt entspannend und ausgleichend auf Körper, Geist und Seele.
Eine halbe Stunde Yoga Nidra entspricht bei regelmässiger Praktik der Erholung von bis zu vier Stunden Schlaf!
Gesundheit und Wohlbefinden
Das endokrine System, was unseren hormonelle Haushalt steuert, ist direkt vom vegetativen Nervensystem abhängig und wird durch die Entspannung im Yoga Nidra positiv beeinflusst. Dies steigert die Immunabwehrbereitschaft.
Zudem können Beschwerden des Bewegungsapparates gelindert bis eliminiert werden.
Schlafqualität
Durch das regelmässige Praktizieren lernt der Körper einen neuen Umgang mit dem Schlaf. Das Ein- und Durchschlafverhalten harmonisiert sich.
Gelassenheit
In Yoga Nidra schulst Du Deine Flexibilität bei der Wahrnehmung von Empfindungen, was Dir im Alltag wertvolle Gelassenheit schenkt. Alltagsreaktionen werden ruhiger und überlegter. Deine Reserven werden aufgeladen und Deine Belastbarkeit erhöht sich.
Konzentration und Kreativität
Im Yoga Nidra übst Du Dich mühelos in meditativer Konzentration und schaffst in Dir einen Raum für Kreativität. Die Lernbereitschaft steigert sich und das Bilden von neuen neurologischen Synapsen wird durch den entspannten Zustand erleichtert.
Spirituelle Entwicklung
Du begegnest Deinem Unterbewusstsein, Deinem höheren Selbst und Deinem Wesenskern und das bei jeder Praktik von Neuem!
Sankalpa
Das Sankalpa ist der Same des Yoga Nidra und gehört für mich auch zu jeder Asana Praktik dazu. Wörtlich übersetzt heisst es "Sprache der Wahrheit" und man kann es als Entschluss, Absicht oder Vorsatz verstehen, dessen Ziel eine Veränderung (z. Bsp. eines Zustands oder Verhaltensmusters) ist.
Swami Satyananda Saraswati beschrieb es so (Yoga Nidra, S. 25):
"Das Sankalpa ist ein Same, den du erzeugst und dann in das Beet deines Geistes säst. Wenn der Geist klar ist, wächst das Sankalpa sehr gut. Bereitest du zuerst das Beet mit Dünger vor und entfernst Unkraut und Gras, wird die Pflanze besser wachsen. Ebenso machst du es mit dem Geist und einer Idee. Wenn du den Geist richtig vorbereitest und die Idee richtig aussäst, dann wird diese Idee in deinem Leben wachsen und zu einer klaren und unumstösslichen Richtschnur werden. [...]
Sobald die Saat des Sankalpas tief in das Unterbewusste gelegt wurde, sammeln sich die unendlichen Geisteskräfte, um es in Erfüllung gehen zu lassen. Diese tiefe und kraftvolle Saat wird schliesslich immer wieder auf einer bewussten Ebene in Erscheinung treten und Änderungen in deiner Persönlichkeit und deinem Leben herbeiführen. Jeder von uns hat die Kraft, die eigenen mentalen Strukturen umzuformen."
Sankalpas sind eigentlich Befehle oder Aufträge vom Bewusstsein ans Unterbewusstsein. Sie haben einen grossen Einfluss auf die Art unseres Denkens und Verhaltens. In der Tiefenentspannung werden beide Gehirnhälften miteinander verbunden und somit das bewusste Denken mit dem unbewussten Wissen verknüpft. Das ist die Voraussetzung für den Zugang zur eigenen Kreativität und zu den brachliegenden Fähigkeiten. Die Affirmationen haben in diesem tiefenentspannten Zustand eine viel stärkere Wirkung.
Das Sankalpa im Yoga Nidra ist die wirkungsvollste Methode, unserem Unterbewusstsein unsere Vorhaben und Wünsche anzuvertrauen.
Im Unterbewusstsein schlummern bei jedem Menschen Glaubenssätze, die unbewusst durch Erziehung und Erfahrungen eingeprägt wurden und als eigene Wahrheit angenommen und wieder und wieder gedacht werden. Sie beeinflussen so das Verhalten und Empfinden des Menschen und können eine lähmende oder blockierende Wirkung haben. Die eigenen Glaubenssätze zu erkennen ist nicht immer ganz einfach, aber wer sich damit auseinandersetzt, wird gleichzeitig eine wundervolle Form eines Sankalpas kreieren können.
Die Vorsatzformeln müssen sich stets an den Bedürfnissen des Einzelnen ausrichten und ihm entsprechend formuliert werden. Auch gibt es bestimmte Regeln, die bei der Formulierung beachtet werden sollten, damit die Information vom Unterbewusstsein verstanden wird und sich die Veränderung im Leben positiv auswirken kann.
Das Sankalpa sollte für würdige und höherbestimmte Absichten formuliert werden. Dabei spielt es keine Rolle, für wie lange das Sankalpa eingesetzt wird. Ein Sankalpa kann von einer einmaligen Absicht für eine einzelne Yoga Asana Praxis bis zum lebenslänglichen Begleiter und Wegweiser werden.
Auch Asanas werden idealerweise mit einer dahinter liegenden Absicht ausgeführt, unabhängig davon, ob diese Absicht von der Yoga Tradition her, vom unterrichtenden Yogalehrer oder individuell vom Yoga Asanas Praktizierenden selbst stammt.
Im Yoga Nidra sollte das Sankalpa mindestens drei Monate beibehalten werden (bei nicht täglicher Praxis entsprechend länger). Nur das regelmässige Bewässern des Samens lässt den Samen spriessen, die Pflanze wachsen und die Früchte gedeihen. Wichtig dabei ist, dass das Ernten der Früchte im Yoga nicht das Ziel sein sollte, sondern "nur" ein natürlicher (und trotzdem wertvoller!) Nebeneffekt.
Das Ziel ist die stete Vereinigung des Bewusstseins im Herzen - das Sein. SO HAM. ICH BIN.
"Die meisten Menschen schlafen, ohne ihre Verspannungen vorher zu lösen. Das nennt man Nidra. Nidra bedeutet Schlaf, egal wie.
Yoga Nidra aber ist der Schlaf, nachdem alle Lasten entfernt wurden. Es ist eine völlig neue Qualität.
Wenn die Wahrnehmung von den Vrittis (Gedankenwellen) abgetrennt wird, wenn Wachzustand, Traum und tiefer Schlaf wie Wolken vorüberziehen, wenn die Wahrnehmung vom Atman (unsterbliche, immaterielle Seele) jedoch trotzdem verbleibt, dann ist das die Erfahrung vollkommener Entspannung."
Swami Satyananda Saraswati